Die emotional-instabile Persönlichkeitsstörung vom Typ Borderline
Persönlichkeitsstörungen
Das ICD 10 definiert eine Persönlichkeitsstörung als länger anhaltende und klinisch wichtige Zustandsbilder und Verhaltensmuster, die „Ausdruck des charakteristischen, individuellen Lebensstils, des Verhältnisses zur eigenen Person und zu anderen Menschen“ (S. 231) darstellen. Dabei handelt es sich um sehr zeitstabile Abweichungen in Handeln und Erleben gegenüber dem Durchschnitt der Bevölkerung, die bei den Betroffenen sowie auch deren engeren sozialen Umfeldern ein gewisses Maß an Leid auslösen können. Dennoch werden die abweichenden Denk- und Verhaltensmuster vom Betroffenen i.d.R. nicht als pathologisch erkannt (Ich-Syntonie). Diese Abweichungen können sich auf die Bereiche der Kognition, der Affektivität, der Impulskontrolle und Bedürfnisbefriedigung sowie der sozialen Funktionsfähigkeit beziehen und sind so stark ausgeprägt, dass eine (partielle) Störung der psychosozialen Funktionsfähigkeit vorliegen kann.
Persönlichkeitsstörungen bilden sich in der Regel in der späten Kindheit bzw. während der Adoleszenz aus und bestehen recht zeitstabil bin ins spätere Erwachsenenalter hinein; auch sind sie keine Folge anderer psychischer oder neurologischer Erkrankungen. Bei im Erwachsenenalter erworbenen Persönlichkeitsstörungen ist meist eine schwere psychische Belastung oder eine schwere psychiatrische Erkrankung ursächlich.
Emotional instabile Persönlichkeitsstörung
Zentral ist die „deutliche Tendenz, Impulse ohne Berücksichtigung von Konsequenzen auszuagieren, verbunden mit unvorhersehbarer und launenhafter Stimmung“. Beschrieben wird damit das Vorherrschen einer gestörten Affektregulation einschließlich einer niedrigen Reizschwelle, in deren Folge es zu einem hohen Risiko von heftigen emotionalen Ausbrüchen mit hohem Erregungsgrad kommt. Die erlebten Gefühle können innerhalb kurzer Zeitspannen abrupt und teils in ihr Gegenteil wechseln.
Die ICD-10 differenziert in den impulsiven (F60.30) und den Borderline-Typ (F60.31), wobei die diagnostischen Kriterien beim Borderline-Typ lediglich eine Ergänzung der des impulsiven Typs darstellen (hauptsächlich emotionale Instabilität und Impulsivität) und zusätzlich den interpersonellen Bereiche sowie das Empfinden der inneren Leere und selbstbeschädigende Handlungen einbeziehen. Der Begriff Borderline (Grenzlinie) bezog sich in seiner früheren Auslegung auf die unklare Zuordnung dieses Störungsbildes auf die Bereiche der neurotischen oder psychotischen Syndrome.
Mit einer Prävalenz von 1,5 – 3 % in der Allgemeinbevölkerung zählt die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) zu den häufigeren Persönlichkeitsstörungen, unter ambulant behandelten psychiatrischen Patienten liegt der Anteil zwischen 15 – 20%. Die Suizidrate ist unter Betroffenen mit 5 – 8 % deutlich erhöht. Es erkranken deutlich mehr Frauen an der BPS (3- bis 4-mal häufiger als Männer).
Diagnostische Kriterien F60.31. Borderline-Typ
- Allgemeine Kriterien für Persönlichkeitsstörung sind erfüllt.
- Mindestens drei der folgenden Eigenschaften / Verhaltensweisen müssen vorliegen:
- deutliche Tendenz unerwartet und ohne Berücksichtigung der Konsequenzen zu handeln
- deutliche Tendenz zu Streitereien und Konflikten mit anderen, vor allem dann, wenn impulsive Handlungen unterbunden oder getadelt werden
- Neigung zu Ausbrüchen von Wut oder Gewalt mit Unfähigkeit zur Kontrolle explosiven Verhaltens
- Schwierigkeiten in Beibehaltung von Handlungen, die nicht unmittelbar belohnt werden
- unbeständige und launische Stimmung
- Sowie zusätzlich mindestens zwei der folgenden Eigenschaften und Verhaltensweisen:
- Störungen der Unsicherheit bezüglich Selbstbild, Zielen und „inneren Präferenzen“ (einschließlich sexueller)
- Neigung sich auf intensive aber instabile Beziehungen einzulassen, oft mit der Folge von emotionalen Krisen
- übertriebene Bemühungen, das Verlassenwerden zu vermeiden
- wiederholt Drohungen oder Handlungen zur Selbstbeschädigung
- anhaltende Gefühle von Leere
Emotionale Dysregulation
Im Zentrum der Symptomatik stehen teils erhebliche Auffälligkeiten in den Bereichen der Affektregulation und des interpersonellen Verhaltens. Stimmungen können sich bei Betroffenen im schnellen Wechsel ändern, auch zeigt sich eine niedrige Reizschwelle zur Auslösung emotionaler Reaktionen (Impulsivität). Die Gefühlsreaktionen klingen häufig nur mit Verzögerung ab und sind von den Betroffenen zudem qualitativ nicht immer differenziert wahrnehm- und zuordbar (Alexithymie), sondern werden häufig nur als diffuse und unangenehme Spannungszustände erlebt.
Häufig reagieren BPS-Patienten mit intensiven Gefühlen wie Angst, Verzweiflung oder Selbsthass selbst auf geringe Auslöser und verharren vergleichsweise lange in stark negativ getönten Erregungszuständen. Diesen heftigen emotionalen Zuständen haben Betroffene in der Regel kaum wirksame Bewältigungsstrategien entgegenzusetzen, weshalb sie von ihrem „Gefühlschaos“ insbesondere im Umgang mit ihrem engeren sozialen Umfeld oder in der Partnerschaft stark beeinträchtigt werden.
Beziehungen von Menschen mit BPS verlaufen in der Regel hochgradig konflikthaft, dabei zeigt sich oft eine Störung der Regulation von Nähe und Distanz: Kennzeichnend sind abrupte Wechsel zwischen Annäherung und Distanzierung, zwischen der intensiven Angst vor dem Verlassenwerden und der tiefen Ablehnung des Partners.
Innere Anspannung vs. innere Leere
Die Schwierigkeiten in der Wahrnehmung von Emotionen gehen bei BPS-Betroffen häufig mit unangenehmen und länger anhaltenden Spannungszuständen einher, die sich auch als dissoziative oder somatoforme Körperwahrnehmungen äußern können. Diese negativen Gefühle werden auch durch Erinnerungen, Albträume oder Flashbacks an als traumatisierend erlebte Zurückweisungen (tatsächliche oder vermutete) im zwischenmenschlichen Bereich gespeist. In diesem Zusammenhang kann es auch zu tranceähnlichen, quasi-psychotischen Zuständen mit Pseudohalluzinationen (ich-dyston) sowie Derealisations- und Depersonalisationserleben konnen.
BPS-Patienten machen oft die Erfahrung, diese quälenden Spannungszustände auf dem Wege der Selbstverletzung (ritzen o.ä.) unterbrechen zu können, was auf dem Wege der negativen Verstärkung zu einer regelmäßigen Form der Spannungsregulation führt.
Demgegenüber stehen Zustände der gefühlten inneren Leere (Gefühl des Abgestorbenseins, der Taubheit), die von den Betroffenen als ebenso unerträglich und belastend erlebt werden und ebenso von selbstverletzenden Handlungen zu durchbrechen versucht werden.
In der Folge entsteht häufig eine stakt negative kognitive Bewertung der eigenen Person, dabei überwiegen Grundannahmen von der eigenen Unzulänglichkeit oder Schlechtigkeit, das Selbstbild der Betroffenen kann hochgradig beeinträchtigt sein. Auch kommt es zu Überzeugungen der Hilflosigkeit sowie des Ausgeliefert-Seins gegenüber der eigenen überbordenden Gefühlsaktivität.
Die typischen Selbstverletzungen und auch parasuizidale Handlungen können als Folge der Störung der Affektregulation beschrieben werden. Intensive Emotionen, die nicht zugeordnet oder identifiziert werden können und daher als kaum erträgliche Spannungszustände persistieren, führen in Kombination mit der stark negativen kognitiven Schemata in den Ausweg der Selbstverletzung. Die Schmerzwahrnehmung ist aufgrund von Dissoziation während der Verletzung weitgehend ausgeschaltet und kehrt erst im Anschluss daran wieder zurück, was zu einem kurzzeitigen Aufheben von Leere oder Spannung führt und mit Gefühlen von Entspannung und Befreiung einhergeht. Diese dysfunktionale Form der Spannungsregulation wird durch den Mechanismus der negativen Verstärkung aufrecht erhalten und führt nicht zuletzt aufgrund der zusätzlich entstehenden Schamgefühle in einen Teufelskreis.
Das Spektrum möglicher Selbstschädigungen umfasst dabei auch bulimisches Essverhalten, exzessiven Drogen- oder Alkoholmissbrauch, sexuelle Promiskuität. impulshaftes Einkaufen oder hochriskante Verhaltensweisen (Rasen, Balancieren auf Brückengeländern etc.).
Unter hohem psychischem Druck kann es zudem zur Ausbildung paranoider Symptome kommen, ebenso zu Entfremdungserleben wie Depersonalisation oder Derealisation.
Beziehungsgestaltung und Identität
Insbesondere Paarbeziehungen von BPS-Betroffenen sind durch den teil raschen Wechsel einerseits von der Sehnsucht nach Nähe sowie der Angst davor, verlassen zu werden, und andererseits von Zurückweisung, Distanz und der Unfähigkeit, Nähe aushalten zu können, geprägt. Das Erleben von Geborgenheit kann häufig nur kurz ausgehalten werden und wird mit Scham, Angst, Schuld oder Abwehrbestrebungen vermischt. Bezugspersonen wird regelmäßige mit einem schnellen Wechsel von Idealisierung und Entwertung begegnet, auch neigen Betroffene zu Misstrauen und exzessivem Kontrollverhalten, was zumeist eine zusätzliche Belastung von Paarbeziehungen darstellt.
BPS-Patienten sind in Bezug auf ihre eigene Identität ausgesprochen unsicher und haben kaum Klarheit darüber, wer sie tatsächlich sind. Diese Störung des Identitätserlebens geht zumeist mit einer Unsicherheit über die eigenen Bedürfnisse und Interessen einher.
Paarbeziehungen mit BPS-Betroffenen sind in der Regel sehr konfliktreich und instabil, häufig führen inszenierte Streits zu veritablen Beziehungskrisen. Dies wird durch eine übertriebene Angst konterkariert, verlassen zu werden und alleine sein zu müssen. In Kombination mit einem ausgesprochen negativen Selbstbild ist die Beziehungsgestaltung zumeist prekär und stellt den (gesunden) Partner vor immense Herausforderungen. Nicht selten stellt die Beziehung zum Therapeuten die einzige tragfähige im Leben des BPS-Patienten dar.
Differenzialdiagnose
Differenzialdiagnostisch abzugrenzen ist die BPS zunächst von der (auch oft kormorbid vorliegenden) posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), die ebenfalls mit sozialem Rückzug im Zuge eines emotionalen und sozialen Vermeidungsverhaltens gekennzeichnet ist. Auch dort finden sich Flashbacks (Intrusionen) und Träume sowie eine vegetative Übererrgung (Hyperarousal) mit Vigilanzsteigerung, Reizbarkeit, Wutausbrüchen oder Schreckhaftigkeit. Hier muss als Unterscheidungskriterium der zeitliche Zusammenhang des Symptomauftretens und einem außergewöhnlich belastenden Ereignis hinzugezogen werden, wobei anamnestisch davor Symptomfreiheit festgestellt würde.
Die BPS weist einige Überlappungen mit anderen Persönlichkeitsstörungen auf (insb. der histrionischen und der narzisstischen) auf, was auch konzeptionellen Schwächen der kategorialen Einteilung dieser Phänomene in ICD-10 oder DSM-V geschuldet ist.
Auch eine Abgrenzung zu ADHS fällt zuweilen schwer, da emotionale Instabilität und Impulsivität auch Kennzeichen einer hyperkinetischen Störung darstellen. Im Unterschied zu Menschen mit ADHS neigen solche mit BPS nur in geringem Maße zu Aufmerksamkeitsstörungen und Hyperaktivität.
Beim hochfunktionellen Autismus sind ähnlich der BPS auch Anspannungszustände mit dissoziativem Erleben, verminderter Schmerzempfindlichkeit und Selbstverletzungen zu beobachten, diese treten dort jedoch infolge einer Reizüberflutung oder durchbrochener Ablaufroutinen auf.
Im Falle von episodenhaft verlaufenden affektiven Störungen gibt die Beobachtung des Langzeitverlaufs wichtige differnzialdiagnostische Hinweise.
Therapie
Die Dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) nach Marsha Lineham, einer selbst von BPS Betroffenen, gilt derzeit als Erfolg versprechendste Therapievariante. Dabei handelt sich um eine Form der kognitiven Verhaltenstherapie, die um weitere Elemente ergänzt wurde. Zu diesen zählt eine dialektische Weltsicht im hegelschen Sinne, also der Auflösung des Widerspruchs von These und Antithese in der Synthese.
Dies kennzeichnet die Situation der Patienten, die sich mit widersprüchlichen Wahrheiten auseinandersetzen müssen, um zu hilfreichen Lernerfahrungen zu gelangen, die sich im Gegensatz zu ihren bisherigen Gewissheiten befinden. In der praktischen Umsetzung neu erlernter Denk- und Handlungsweisen werden Patienten zudem Techniken vermittelt, die gegen Dissoziation und Anspannungszustände eingesetzt werden können.
Übergeordnetes Behandlungsziel ist die Ermöglichung des Zugangs zu den eigenen Emotionen und den diese bedingenden Bedürfnissen. Auch soll der Tendenz, eigene Emotionen aus Furcht vor ihrer Unbeherrschbarkeit zu vermeiden, entgegengewirkt werden.
In der ersten Therapiephase erfolgt eine Bearbeitung schwerwiegender Problembereiche wie Suizidalität, Selbstverletzungen oder soziale Desintegration. Dabei wird ein Therapievertrag unterzeichnet, der wichtige Vereinbarungen enthält und den Patienten verpflichtet, während des Therapiezeitraums keinen Suizidversuch zu unternehmen. Der Patient erlernt in einem Fertigkeitentrainig alternative Techniken im Umgang mit eigenen Gefühlen und anderen Menschen, auch mit dem Ziel, innere Anspannungszustände zu vermeiden. Insgesamt soll so eine Erhöhung der Belastbarkeit und Stresstoleranz erfolgen.
In der zweiten Phase der Therapie steht die Störung des emotionalen Erlebens im Vordergrund, wozu auch die Bearbeitung von traumatischen Erlebnissen gehört. Der Patient soll wieder in die Lage versetzt werden, sich selbst annehmen und ein sinnerfülltes Leben führen zu können.
Die dritte Phase schließlich dient der Einübung der erlernten Fähigkeiten und dem Aufbau von Praxis vor dem Hintergrund der Herausforderungen des Alltagslebens. Selbstachtung, Wertschätzung und die Arbeit an persönlichen Zielen stehen ebenso im Vordergrund.