Was ist das bloß für eine Welt? Ein Mensch fällt vom Fahrrad und popelt sich das Gehirn aus dem Kopf, ein Messias wird auf die Erde geschmissen und durch ein Wäldchen gejagt, ein blindes Mädchen verliert seinen Hund, weil es in der bildungsfernen Dunkelheit nichts sehen kann und ein unfassbar dicker Mensch frisst sich als Gefangener seiner Wohnung zu Tode. In dieser Welt, die nur die Hölle eines anderen Planeten ist, lauert der unfassbarste Wahnsinn hinter jeder Ecke, in ihr ist der Mensch nichts weiter, als eine zu irrsinnsfähigem Formpressfleisch verklebte Zellansammlung.
Formpressfleisch wird ein Sammelband aus teils haarsträubend grotesken bis sarkastischen Erzählungen sein, als grober Erscheinungstermin des Büchleins ist der Sommer 2024 anvisiert.
Textproben aus einigen Geschichten
Blindfisch an der Leine
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Kai und Mario sind die Art von Kindern, die keiner mag. Zumindest aus Reihen der Erwachsenen nicht, und hier wiederum vornehmlich jener, die beruflich oder privat mit den beiden zu tun haben müssen. Unter ihresgleichen, hauptsächlich im Kreise ihrer Klassen- oder Spielkameraden, auf neudeutsch auch Peergroup angliziert, erfreuen sie sich zumindest partieller Beliebtheit, die im wesentlichen auf dem Unterhaltungswert ihrer zahlreichen Streiche (wieder neudeutsch: Pranks), Verhaltensabnormitäten und oppositionellen Renitenzen beruht. Kai und Mario sind mindestens grottenschlechte Schüler, interessieren sich nicht die Bohne für den Unterrichtsstoff, nicht einmal für interessante Sachinformationen außerhalb schulischer Lerninhalte, sondern gieren förmlich immerzu nach permanenter Bedürfnisbefriedigung im Ad-hoc-Modus, sofortiger, unmittelbarer Triebabfuhr und billigster, niveaulosester Zerstreuung. Je dümmer, einfallsloser und unterkomplexer, desto besser.
Einen nicht unerheblichen Teil ihrer bisher noch vergleichsweise überschaubaren Lebenszeit konnten sie in Form intensiven Daddelns bereits erfolgreich hinter sich bringen, also dem stumpfsinnigen Herumgerüttele an den Joysticks ihrer Spielkonsolen, gepaart mit hektischen Blicken durch die glasigen Pupillen ihrer ausdruckslosen Glupschaugen auf irgendeinen verranzten Monitor, auf dem sich der für sie relevanteste Teil des Weltgeschehens abspielt. Für ihr junges Alter konnten Kai und Mario also schon beachtliche Fortschritte in Sachen Selbstverblödung verzeichnen, was allerdings voraussetzen würde, dass zuvor genügend kognitive Substanz vorhanden gewesen wäre, die sich verblödender Weise hätte abbauen lassen. Da das nicht der Fall ist, trifft es der Begriff Verblödung nicht ganz, da es sich hier vielmehr um die gezielte oder fahrlässige, in jedem Fall aber als eine Art Ideal gefeierte Beibehaltung frühkindlicher Denkmodi in Kombination mit den dazugehörigen infantilen Triebstrukturen handelt. Kurz nach ihrer Geburt müssen die beiden also intuitiv gemerkt haben, dass es nicht nur recht einfach möglich ist, sondern sich auch durchaus lohnt, anstrengende Entwicklungsaufgaben achselzuckend zu umschiffen und trotzdem mit jeder Menge Spaß durchs Leben zu kommen.
Aus diesem Grunde ist vor allem die Schule so ein Problem. Mehr noch, sie ist ein absoluter Hassort, ein No-Go im wahrsten Wortsinne, denn sie konfrontiert Kai und Mario mit so ziemlich dem Schlimmsten, das die ihnen bekannte Welt zu bieten hat, nämlich mit Anforderungen. Dingen also, die ihren Anspruch aus einem Bereich schöpfen, die sich im Hierarchiegefüge menschlicher Kulturentwicklung deutlich oberhalb der imbezilen Sphäre basaler Selbststimulation befinden und daher kategorisch abzulehnen sind. Doch weil es eben eine Schulpflicht gibt, werden sie von ihren nicht minder minderbegabten Eltern täglich aus den Betten gezerrt und ohne Frühstück in die Schule gejagt. Denn um vor Polizei und Jugendamt, vor Bußgeldern oder Sperrungen der Stütze Angst zu haben, reicht der noch verbliebene Bodensatz an kognitiven Reflexen von Mama und Papa gerade noch so aus.
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Auf der Flucht erschossen
Darum seid ihr auch bereit; denn der Menschensohn wird kommen zu einer Stunde, da ihr’s nicht ahnt (Mt 24:44).
Eine kleine Lichtung in einem Buchenhain. Ein Wäldchen, weit genug entfernt von den Siedlungen der Menschen und vom Lärm ihres grassierenden Lebens. Auf dem Boden heruntergefallenes Laub, moosbedeckte Steine, kleine Pflanzen und Pilze, dazwischen abgebrochene Äste, Reisig, Bucheckern, Eicheln, ebenso das unvermeidliche Insektengetier. Die Frühlingssonne lugte durch das frische Grün oben in den Baumwipfeln, ein Schleier von Frühling durchwehte dieses idyllische Fleckchen Natur, das nach den endlos langen Qualen und Entbehrungen eines nicht enden wollenden Winters endlich wieder Hoffnung und Zuversicht erleben durfte. Einige Vögel übten sich oben im Geäst der Bäume im Reviergesang, bereiteten sich vor auf die auszehrenden Wochen der Aufzucht einer neuen Generation und nahmen keine Notiz von der Gestalt, die unten an einen Baum angelehnt saß und versonnen ins Gebüsch blickte. Sie war nur mit einem leichten Lendenschurz bekleidet, ihre ansonsten nackte Haut war von goldbrauner Farbe und an mehreren Stellen mit angetrocknetem Schmutz bedeckt, von ihrem Kopf standen verfilzte Haarlocken mehrere Handbreit ab, Mund und Kinn waren von einem dichten Bart umwuchert. Die Gestalt war der Messias. Der Heiland. Der Menschensohn.
Seit mehreren Stunden schon hatte der Messias an einen Baum gelehnt auf dem Boden gesessen und dabei stumpfsinnig sich hin gestiert und mit einiger Mühe nachgedacht. An das, was zuvor geschehen war, konnte er sich nur noch in Bruchstücken erinnern, und auch von dem, was er als nächstes tun solle, hatte er nur eine ziemlich vage Vorstellung. Die zwei Jahrtausende, die er seit seiner letzten Hinrichtung und Auferstehung im Himmel hatte verbringen müssen, waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Viel war in den paradiesischen Sphären nicht zu erledigen gewesen, so dass er sich sogar als göttliches Wesen einen Begriff jenes Zustands machen konnte, den die Menschen gemeinhin als Langeweile zu bezeichnen pflegten. Doch trotz seiner deutlich ausgeprägten Unterbeschäftigung war diese lange Zeit in einer rauschhaften, kaum merklichen Weise an ihm vorübergeeilt, denn im Himmel gingen die Uhren nicht nur anders und vor allem schneller, sondern besaßen aufgrund der unmöglichen Skalierbarkeit des Ewigen auch weder Zeiger noch Ziffernblatt. Dass die Zeit für die nächste Parusie auf dem Erdenrund nun gekommen war, hatte sich lediglich durch eine beherzt ausufernde Anomalie, gewissermaßen also eine willkürliche Amplifikation der latenten Instabilität im Organisationsgefüge der himmlischen Instanzen ergeben; nichts anderes als ein dummer Zufall also, den selbst die klügsten Evangelisten nicht treffgenau hätten vorhersagen können. Tatsächlich trug niemand die Verantwortung dafür, dass der Messias nun in einer recht unbequemen Haltung auf dem harten Boden der Erde im Reich der Menschen saß und davon selbst ein wenig überrascht war.
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Formpressfleisch
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Heute geht Karl eigentlich nicht mehr raus auf den Flur. Er verlässt seine Wohnung nicht nur nicht, nein, er KANN sie nicht mehr verlassen, weil er so unfassbar fett geworden ist. Vor etwa fünf Jahren hat er angefangen zuzunehmen, sich erst Stück für Stück, dann immer schneller und schneller in ballonartiger Weise aufzublähen. Erst war es nur ein kleines Bäuchlein von jener Art, wie es die meisten Männer im mittleren Alter entwickeln. Eine kosmetische Unzulänglichkeit, ein minimales Makel, aber nicht weiter schlimm, hat er sich damals gedacht, für Sport und Diät bestand noch kein Anlass. Irgendwann müsste man mal gesünder leben, weniger essen und sich etwas mehr bewegen, so seine damalige Beschwichtigung. Aus dem Bäuchlein wurde jedoch schnell ein Bauch und daraus dann ein richtiger Ranzen, eine Plautze, eine Fettschürze, die ihm immer mehr den Blick auf sein Gemächt verdeckte. Auch kam er dort nicht mehr mühelos heran und musste die Fettwulst jedesmal beiseite schieben, wenn er pinkeln oder wichsen wollte. Ebenso verlor er auf diese Weise den optischen Kontakt zu einer wichtigen Region seines Körpers, die er, ganz nach dem Motto „Aus den Augen, aus dem Sinn“, immer weiter aus den Verrichtungen zur Körperhygiene ausklammerte. Für Sport und Diät war es von da an endgültig zu spät, denn an den abdominalen Protuberanzen (lat. Anschwellungen) würde er sowieso nichts mehr ändern können – zumindest nicht innerhalb eines vertretbaren Korridors an Anstrengung und Mühe. Fortan wulste sich alles aus, platzte alles hervor und stülpte sich alles heraus, was außen an ihm dran war, der Hals schwoll an und legte sich in Ringen auf die Schultern, von den Oberarmen begann das Fett in Lappen herunter zu hängen, die Oberschenkel verschwanden hinter tranigen Wülsten vollgesogener Haut. Wo die Haut dünner war, begannen Fett, Eiter und Talg zu koagulieren und Stalagtiten auszubilden.
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Die Leiche. Eine Jugendgeschichte.
Es gab einmal eine Zeit, da hatte ich bei uns im Keller eine Leiche deponiert. Irgendwann mal im Feld hatte ich sie gefunden, eine wunderschöne Frauenleiche, außer etwas Blässe schön anzusehen, und sogleich, da ich zufällig einen stabilen Handkarren dabei hatte, mitgenommen. Meine Eltern waren weggefahren, es bereitete mir also keine Schwierigkeiten, die Leiche bei uns im Keller zwischen allerlei Gerümpel und Tüchern zu verstecken, für den Fall nämlich, dass Vater und Mutter, wenn sie dann und wann im Keller waren, nichts von ihr sahen.
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Der heimliche Neger
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Er wollte nur kurz pinkeln gehen, seine Blase war randvoll und weit und breit kein Klo in Sicht. Keine einzige Notdurftanstalt in dieser verdammten Stadt und auch kein noch so kleines Plätzchen, wo man unbeobachtet pinkeln konnte. Überall Fenster mit Leuten dahinter, hinter jeder Ecke diese verdammten Passanten, die, egal wo man war, plötzlich wie aus dem Nichts hervorgeschossen kamen. Eine ganze Stadt voller nutzloser Leute. Unendlich viele Klos, Bedürfnisanstalten und Aborte wurden in der verfluchten Coronazeit einfach dichtgemacht wegen der Hygiene. Seitdem muss man eben hinpinkeln, wo es gerade geht. Vom großen Geschäft ganz zu schweigen. Ein armer Hund, wer unterwegs ist und plötzlich kacken muss.
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Eierkrebs
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Er hatte Glück gehabt, ein paar armselige Reste an Männlichkeit hatten ihm die OP-Schlächter noch im Sack gelassen. Nach zwei Tagen im Halbkoma hatte man ihn schließlich entlassen, er war als Patient nicht nur nicht mehr brauchbar gewesen, nein, er war dem Personal in all seinem zur Schau gestellten Elend hochgradig zuwider geworden, mehr noch, man war seiner überdurchschnittlich schnell derart überdrüssig geworden, dass man ihn verfrüht nach Hause geschickt, also unehrenhaft aus der Siechenanstalt entlassen hatte, um sich seines deprimierenden Anblicks zu entledigen, zurück in seine beengte und vollgemüllte Wohnung also, wo er trotz Unmengen an Analgetika vor lauter Schmerzen im Schritt weder stehen noch sitzen konnte, vom Pinkeln ganz zu schweigen, vom Abkolben sowieso. Seinen malträtierten Sack hatte man in Unmengen an Verbandsstoff gehüllt, den er, so die dringende Anweisung der Weißkittel, regelmäßig von seinem Hausarzt hatte wechseln lassen müssen. Und so begann Markus im Kreise seiner kleinen Familie vor sich hin zu vegetieren, sich selbst zu bemitleiden und all das abgrundtiefe Elend mit Inbrunst auszustrahlen, das ein Mann mit metastasierendem Eierkrebs und weitgehend entleertem Sack zu fühlen imstande ist. Seine zwei Töchter brüllte er bereits wegen minimalster Verfehlungen oder Störungen mit sich überschlagender Stimme an, so dass nach wenigen Tagen heiser wurde, und seine arme Frau erniedrigte er bei jeder sich bietenden Gelegenheit akribisch bis aufs Blut, um auf diese zwar ungerechte, aber nichts desto trotz sehr wirksame Weise, seine entwürdigende Entmännlichung vor dem weiblichen Geschlecht irgendwie wieder auszugleichen. Ansonsten lag er vor früh bis spät auf seiner Couch und sinnierte dumpf vor sich hin, während er mit leblosen Augen und seit Wochen ungeduscht in den laufenden Fernsehblidschirm starrte, wobei allerlei Sekrete aus der Wunde zwischen seinen Beinen tropften und in der Couch versickerten . So ging das nun schon seit Wochen.
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Kopf gebrochen
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Der gestürzte Radfahrer konnte sich nur unter größten Mühen auf den Beinen halten, schaute wirr umher und war unzugänglich für jede Ansprache. Ob es ihm gut gehe, ob er einen Arzt brauche, wie der Sturz denn habe passieren können und ähnliches Zeug hatte sie ihn gefragt, jedoch keine Antwort erhalten. Der Radfahrer stand einfach so da, glotze irgendwie dümmlich ins Nichts, schwankte leicht umher und blutete aus dem Ohr. Außerdem hatte er sich eingenässt und in die Hose geschissen, machte alles in allem also einen leicht abstoßenden Eindruck. Doch die Frau fühlte sich beobachtet und wollte nicht das Risiko eingehen, wegen unterlassener Hilfeleistung angezeigt zu werden. Also fummelte sie ihr Handy aus der Tasche und alarmierte den Rettungswagen, sollen die sich doch die Finger schmutzig machen an dem Typen, dachte sie. Der Krankenwagen erschien kurze Zeit später mit Martinshorn, Blaulicht und anderem katastrophischen Tamtam auf der Bildfläche, seine Besatzung schnallte den offensichtlich schwer verletzten und unter Schock stehenden älteren Herren auf eine Bahre und transportierte ihn ab. Auskünfte zum Unfallhergang konnte sie nicht erteilen, außer eben, dass der Radfahrar unvermittelt und offensichtlich alkoholisiert ohne jeden erkennbaren Grund in hohem Bogen vom Rad gestürzt war. Immerhin schaffte sie es noch einigermaßen pünktlich zu ihrer Verabredung, wenn auch mit leichter Verspätung, hatte dort aber immerhin eine spannende Geschichte zur ansonsten langweiligen Konversation beizusteuern, die sie mit reichlich geflossenem Blut, Geschrei und kriegsähnlichen Verstümmelungen theatralisch auszuschmücken wusste. Das Fahrrad indes räumte irgendein genervter Autofahrer schließlich auf den Bürgersteig, wo es nach nur wenigen Augenblicken von einem der zahlreich anwesenden Diebe entwendet wurde. Lübeck eben.
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