Der Ukrainekrieg eskaliert. Die Folgen könnten verheerend sein, insbesondere für den Europäischen Kontinent. Eine wesentliche Triebfeder dafür sind die geostrategischen Interessen der USA, die vor dem Hintergrund multipolarer Tendenzen die Wiederherstellung und Sicherung ihrer globalen Hegemonie anstreben.
Seit Zeiten der Sowjetunion zeichnet sich die US-Geopolitik durch eine gewisse Kontinuität aus, in der der Erhalt globaler Hegemonie in einer kompetitiven Situation ein wesentliches Motiv darstellt. Auf Eurasien bezogen, bilden die Staaten Europas eine strategische Manövriermasse, die als potenzielle Konkurrenten zwar im Dienste der US-Interessen stehen sollen, in letzter Konsequenz jedoch als verzichtbar gelten, bzw. deren eigene vitale Interessen jenen der USA untergeordnet sind. Die Ukraine stellt für US-Strategen schon lange einen Brückenkopf zwischen Asien und Europa dar, dem eine fundamentale Bedeutung für die machtpolitische Stellung Russlands zugesprochen wird. Im aktuellen Ukrainekrieg gerät diese US-Geostrategie in eine heiße und möglicherweise nicht mehr kontrollierbare Phase, die die Welt vor den Abgrund eines Nuklearkrieges stellt.
Anm. FS: Ein hochkomplexes Thema, das ganze Fachbücher füllen könnte. Es kann im Rahmen dieses kleinen Blogs nur sehr unvollständig angerissen werden, wobei trotzdem deutlich wird, dass manche Ereignisse nicht einfach vom Himmel gefallen sind und eine lange Vorgeschichte machtpolitischer Interessenkonstellationen haben.
Das US-amerikanische Zeitalter zerbröckelt
Kein Land der Erde investiert so viel Geld in Rüstung und Militär, wie die USA. Kein Land der Erde hat rund um den Globus so viele militärische Interventionen und völkerrechtswidrige Kriege getätigt, wie die USA. Kein Land der Erde unterhält so viele militärische Stützpunkte rund um den Globus, wie die USA. Und kein Land der Erde hat so viele andere Länder in Abhängigkeit gebracht und Vasallenstaaten um sich geschart, wie die USA. Keine Frage, die Vereinigten Staaten von Amerika haben sich zur alles beherrschenden Supermacht aufgeschwungen und tun alles dafür, dass es so bleibt. Und dass lässt man sich etwas kosten – auch Menschenleben: Über 20 Millionen Menschenleben haben US-Kriege seit Ende des 2. Weltkrieges gekostet.
Von den insgesamt 469 militärischen Interventionen, die die USA seit 1789 durchgeführt haben, entfallen mehr als die Hälfte – 261 – auf die Zeit nach 1991. Offensichtlich war die US-Politik bestrebt, ihren weltweiten Einfuss nach dem Zerfall des Ostblocks zu sichern und auszubauen. Freilich geschah dies unter dem Deckmantel der Friedenspolitik und des Kampfes gegen den Terror, faktisch jedoch waren die Vorzeichen machtpolitischer, imperialistischer oder neokolonialer Art. Hohe Zahlen, die noch konservativ ermittelt wurden. Hinzu kommen noch die zahllosen verdeckten Operationen der CIA, mit denen ebenfalls gewaltsam Einfluss auf die Geschicke unabhängiger Staaten genommen wurde (siehe Video im Anschluss).
Die Vorstellung einer unipolaren Welt unter Vorherrschaft der USA bekam nach dem Ende des Ersten Kalten Krieges (aktuell befinden wir uns im Zweiten Kalten Krieg) zunehmenden Auftrieb in den US-Administrationen. Dies ging mit einer deutlichen Militarisierung der US-Außenpolitik sowie enorm ansteigenden Rüstungsausgaben einher. Bei letzteren sind die USA mit 801 Mia $ (Stand 2021) Weltspitze – weit abgeschlagen vor allen anderen Staaten der Erde. Tendenz steigend, denn in diesem Jahr betragen die beantragten direkten Militärausgaben stolze 813 – 850 Mia $, was die Gesamtausgaben der USA für Einrichtungen der Nationalen Sicherheit auf 1,4 Billionen Dollar treibt. Ein nicht unerheblicher Teil dieser Summe landet übrigens in den Taschen der gut gemästeten und lobbystarken Rüstungsindustrie.
Kehrseite der außenpolitischen Militarisierung der USA war der Bedeutungsverlust der Diplomatie. Fakten wurden geschaffen, so etwa mit der sukzessiven Erweiterung der NATO nach Osteuropa (aktuell auch Nordeuropa, was jedoch schon lange geplant war) bis unmittelbar an die russische Grenze (Estland, aktuell auch Finnland). Dies geschah entgegen leider nur mündlicher Zusagen nach dem Fall der Berliner Mauer und unter Missachtung der Sicherheitsinteressen Russlands (Hier muss allerdings angemerkt werden, dass z.B. die Kuba-Krise seinerzeit im Wesentlichen mündlich verhandelt wurde, die gesprochene Zusage von Politikern also noch einen verbindlichen Wert hatte.). Der US-geführte Westen nahm die Konfrontation bewusst in Kauf. Die strategischen Muster der USA ähneln sich dabei: Man bildet Allianzen, rüstet auf und provoziert – was aktuell in Taiwan zu beobachten ist.
Die unipolare Welt ist jedoch in Gefahr, die auch wirtschaftlich und innenpolitisch unter Druck stehenden USA sehen ihr machtpolitisches Alleinstellungsmerkmal schwinden. Mit den BRICS-Staaten (Russland, China, Brasilien, Indien, Südafrika) hat ein neuer, sehr potenter Akteur die internationale Bühne betreten, der – anders als der US-dominierte „Westen“ – rund 40 % der Weltbevölkerung repräsentiert (gegenüber etwa 12%).
Dass den USA trotz gigantischer militärischer Bemühungen und Allianzen ein Verlust ihrer Hegemonialstellung droht, macht die machtpolitischen Eliten rund um Administration und militärisch-industriellen Komplex nervös. Und hier kommt die Ukraine ins Spiel, deren Lage als eurasisches Bindeglied zwischen dem US-geleiteten Westeuropa (EU, NATO) und dem asiatischen Kontinent mit dem an Rohstoffen reichen Russland sowie der aufstrebenden Wirtschaftsmacht China eine herausragende Stellung beigemessen wird. Es gilt, einen Aufstieg der nuklear bestückten Noch-Regionalmacht Russland zur Supermacht zu verhindern. Mit allen Mitteln.
Zbigniew Brzezinski und die Ukraine als geopolitischer Dreh- und Angelpunkt
Für die USA als Seemacht stellt der eurasische Kontinent mit seinen über fünf Milliarden Menschen eine gewaltige Herausforderung und Konkurrenz dar. Wer diesen Kontinent beherrscht, hat nicht nur Zugang zu schier unerschöpflichen Rohstoffen und Ressourcen, sondern ist auf der internationalen Bühne ein Big Player. Kommt noch ein Atomwaffenarsenal hinzu, entstünde eine weitere Supermacht, die den hegemonialen Anspruch der USA empfindlich in die Schranken weisen könnte.
Der Politologe Zbigniew Brzezinski (1928 – 2017), ein einflussreicher und an vielen Regierungsentscheidungen mitbeteiligter Politikberater vieler US-Adiministrationen, erkannte die Schlüsselposition der Ukraine für die Machtstrukturen auf dem Eurasischen Kontinent sowie ihre zentrale Rolle für eine Vormachtstellung Russlands. In seinem 1997 erschienenen Buch The Grand Chessboard: American Primacy and its Geostrategic Imperatives (dt.: Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft) beschreibt er die Ukraine als eine Art russischen Schlüssel zum Eurasischen Kontinent, ohne den Russland eine nur auf den asiatischen Teil beschränkte Regionalmacht bliebe. Ihm zufolge trage die bloße Existenz der Ukraine zur Umwandlung Russlands bei.
Für die USA stellte ein mögliches eurasisches Bündnis zwischen Lissabon und Wladiwostok sowie die russische Vormachtstellung auf einem Megakontinent mit einem Dreiviertel der Weltbevölkerung ein Szenario dar, das es unbedingt zu verhindern galt. Der Hardliner Brzezinski skizzierte dazu eine Landkarte aus einer Hierarchie von Staaten, die von abhängigen Vasallenstaaten bis hin zu Schurkenstaaten reichte. Dabei stellt die Einbindung von Protektoraten oder gefügigen Vasallenstaaten in die Machtsphäre der USA ein probates Mittel der regionalen Einflussnahme dar, wie sie innerhalb der Staaten der Europäischen Union – und insbesondere an der BRD – gut zu beobachten ist. Militärische Überlegenheit bildet dabei ein weiteres zentrales Element der imperialen Geopolitik.
Gemäß Brzezinski kommt Europa also die Positionen eines Brückenkopfes als gewissermaßen exterritoriale US-amerikanische Vorhut zu, dessen Hauptaufgabe es ist, ein Erstarken Russlands zu verhindern. Dabei ist es wichtig, möglichst viele Staaten in die NATO aufzunehmen, da das Bündnis auch die militärische Präsenz der USA im westlichen und mittleren Teil Europas gewährleistet – die fortschreitende Erweiterung der NATO wird also als Garant für die Durchsetzung von US-Interessen in Europa angesehen. Und: Je mehr Staaten die Europäische Union umfasst, desto größer fällt auch der Einflussbereich der USA aus. Interessanterweise wird die ökonomische Konkurrenz der EU als regionalem Integrationsraum den machtpolitischen Interessen untergeordnet.
Um in diesem Kontext zur Ukraine zurückzukommen, so befand sich der Vielvölkerstaat am Schwarzen Meer schon früh im Fokus von EU und NATO, was dem Nichtmitglied in beiden Bündnissen einen Sonderstatus bescherte. So wurde mit der NATO die Unterstützung bei der Reform von Streit- und Sicherheitskräften vereinbart, außerdem durfte das Land als erstes Nichtmitglied an NATO-Militäroperationen teilnehmen. In der NATO-Ukraine-Charta (1997) wurde die Grundlage der zukünftigen Kooperation gelegt, knapp zehn Jahre später dann auf dem Bukarester NATO-Gipfel (2008) eine grundsätzliche Beitrittsperspektive ausgesprochen. Auch auf dem NATO-Gipfel in Wales (2014), der im Schatten der Sezession oder Wiedereingliederung der Krim nach Russland stattfand, wurde eine vertiefte Zusammenarbeit der Ukraine mit der NATO beschlossen.Seitdem stand der NATO-Beitritt weit oben auf den Agenden ukrainischer Präsidenten, so etwa bei dem durch den von westlichen Kräften unterstützten Maidan-Putsch ins Amt gekommenen Petro Poroshenko sowie seinem Nachfolger, dem Schauspieler und Komiker WlodymyrSelenskij. Wie es scheint, finden sich Brzezinskis Empfehlungen in der politischen Realität wieder. Interessanterweise rückte Brzezinski kurz vor seinem Tod von der NATO-Ostwerweiterung ab und empfahl der Ukraine, nicht der NATO beizutreten. Ob es Altersweisheit war?
RAND Corporation – oder wenn Falken Falken beraten
Die RAND Corporation ist ein US-amerikanischer Think-Tank mit Sitz im kalifornischen Santa Monica, der 1946 als Forschungsinstitut für die US-Armee gegründet wurde und in der Folgezeit den Kreis seiner Klienten vergrößert hat. Hauptaufgabe sind Forschungen zu den „komplexesten und wichtigsten gesellschaftlichen Problemen“ (eigene Übers.), so die Selbstbeschreibung. Die RAND Corporation wird massiv mit Mitteln der US-Haushalts unterstützt und gilt als eng mit der US-Regierung verwoben. Sie berät deren Exekutivorgane, darunter auch die Geheimdienste. Innerhalb der Denkfabrik arbeiten hochkarätige Forscherteams an mannigfaltigen gesellschaftlichen Fragestellungen, so etwa auch zum Thema Übergewicht oder Drogenmissbrauch.
Einen wesentlichen Themenschwerpunkt bildet allerdings die Frage nach Möglichkeiten der Destabilisierung Russlands, der in dem Strategiepaier Overextending and Unbalancing Russia eindrucksvoll aufgearbeitet wurde (obwohl RAND Russland zwischen den Zeilen bescheinigt, keine aggressiven Absichten zu hegen). Auch wird empfohlen, ähnlich wie bei Brzezinski, mithilfe verbündeter Staaten die analysierten Schwächen Russlands im Zuge einer langfristigen Strategie zur Schwächung des Landes auszunutzen. Für jede Schwachstelle wurde die jeweils zu erwartende Erfolgswahrscheinlichkeit sowie die anfallenden Kosten und Risiken beziffert. Von besonderer Bedeutung ist die russische Wirtschaft, für die aufgrund der hohen Vorkommen an Energierohstoffen der Gas- und Ölexport eine herausragende Rolle spielt. Hier lautet die naheliegende Empfehlung, vor allem die europäischen Öl- und Gaskontingente nicht aus Russland zu beziehen, sondern durch LNG-Lieferungen anderer Staaten zu ersetzen. Eine Strategie, die durch die Ablehnung von Nord Stream 2 durch die USA sowie die aktuelle Energiekrise ungeahnte Brisanz besitzt.
Auch die Bereitstellung militärischer Hilfe („lethal aid“) für die Ukraine spielte eine wichtige Rolle in der Analyse der RAND Corporation, jedoch nicht ohne den Hinweis auf die Gefahr einer militärischen Eskalation, die Russland auch aufgrund der geographischen Nähe gewinnen könnte. Einen näheren Blick auf dieses außenpolitische Feld gewährt die ebenfalls 2019 erschienene Studie Extending Russia – Competing from Advantageous Ground. Im Kapitel Geopolitical Measures widmet sich die RAND Corporation der Ukraine und empfiehlt die Bereitstellung von Kriegswaffen, um die russischen Kosten für die Unterstützung der Separatisten im Donbass in Blut und Finanzen (frei übersetzt) in die Höhe zu treiben. Mit Blut sind explizit getötete russische Soldaten gemeint, was auf die technisch-rationale Inhumanität der Autoren hinweist.
Ziel der Waffenlieferungen ist eine möglichst lange Perpetuierung des Konflikts, der Russland finanziell und personell ausbluten soll, jedoch ohne ihn in der Weise eskalieren zu lassen, dass ostukrainische Rebellen eine Offensive auf die Regionen westlich des Donbass‘ starten könnten oder dass die russische Armee selbst zum Einmarsch animiert würde. Bezeichnenderweise wird die Frage zur Befriedung des ukrainischen Bürgerkrieges gar nicht erst gestellt, dafür jedoch die Eingliederung der Ukraine in die NATO empfohlen, obgleich auch Widerstände in europäischen NATO-Ländern (insb. Deutschland) festgestellt werden. Alles in allem sieht die RAND Corporation in der Ukraine die Chance, russische Ressourcen in signifikanter Weise aufzehren zu lassen – allerdings auch mit Verlusten an ukrainischen Leben.
Fazit: Kontingenz der Ereignisse hat US-Pläne eingeholt
In der Entwicklung des Ukraine-Konflikts ist die Handschrift der US-Geopolitik beinahe drehbuchmäßig zu erkennen. Zurzeit dreht sich die Eskalationsspirale in Richtung eines großen Krieges mit möglichem Einsatz von Nuklearwaffen. In letzter Konsequenz droht also die Umwandlung des Europäischen Kontinents in einen Haufen strahlenden Schutt. Die Teilmobilmachung Russlands sowie die hektischen Referenden in den besetzten Gebieten als Folge der Rückeroberungen der ukrainischen Armee unter westlicher Militärhilfe sind neue Fakten, die zu den Kosten und Risiken der US-Strategie gezählt werden müssen, da die NATO faktisch zur Kriegspartei avanciert ist.
Indes ist eine Deeskalation nicht zu erkennen. Es wird nicht nur stur an der bisherigen Strategie festgehalten, sondern rhetorisch und militärisch weiter aufgerüstet. Ein Prozess wurde in Gang gesetzt, der eine gefährliche Eigendynamik erhalten hat, die zu fatalen Resultaten führen kann. Es wäre zwar nicht das erste Mal in der Geschichte der US-amerikanischen Geopolitik – dieses Mal könnte es jedoch Folgen haben, die alles andere in den Schatten stellen.