Hyperkinetische Störungen (HKS) spielen im pädagogischen Alltag insbesondere im Umgang mit Kindern und Jugendlichen eine große Rolle. In einer Metaanalyse wurde die weltweite Prävalenz mit etwa 5% angegeben, wobei die Erkrankungshäufigkeit männlicher Kinder und Jugendlicher die von weiblichen jungen Menschen um den Faktor zwei bis vier übertrifft. HKS stellen nicht nur für die Betroffenen eine große Belastung dar, sondern ebenso für ihr familiäres und institutionelles Umfeld. Ebenso bedeutet die Erkrankung für betroffene Kinder und Jugendliche eine mitunter gravierende Beeinträchtigung ihrer sozialen und auch schulischen Funktionsfähigkeit – häufig mit entsprechend negativen Folgen für die Bewältigung anstehender Entwicklungsaufgaben.
Hyperkinetische Störungen nach ICD-10
Das Klassifikationssytem ICD-10 benennt im Kapitel F9 (Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in Kindheit und Jugend) vier Subgruppen der HKS:
- Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0; ADHS)
- Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (F90.1)
- Andere Hyperkinetische Störungen (F90.8)
- Nicht näher bezeichnete Störung (F90.9)
Die HKS zeichnen sich durch einen frühen Beginn aus, die diagnostischen Kriterien der ICD-10 fordern einen Beginn vor dem siebten Lebensjahr, wobei der tatsächliche Beginn in vielen Fällen bereits vor dem fünften Lebensjahr zu beobachten ist.
Zu den Leitsymptomen zählen Unaufmerksamkeit, Überaktivität (motorische Unruhe) und Impulsivität, die sich situationsübergreifend manifestieren müssen (gefordert wird die Erfüllung der Kriterien in mehr als einer Situation) und in ihrer Ausprägung nicht dem normalen Entwicklungsstand des Kindes entsprechen. Auch müssen die Symptome für mindestens sechs Monate bestehen und insgesamt ein deutliches Leiden oder eine Beeinträchtigung der sozialen Funktionsfähigkeit hervorrufen.
Um eine HKS zu diagnostizieren zu können, müssen folgende Störungen ausgeschlossen werden:
- affektive Störungen
- Angststörungen
- Schizophrenie
- tiefgreifende Entwicklungsstörungen / Autismus
Diagnostik
Aufgrund des komplexen und situationsübergreifenden Störungsbildes der HKS, dem zudem in der Regel eine multifaktorielle Ätiopathogenese zugrunde liegt, ist eine Mehrebenendiagnostik unerlässlich.
Eine Eigenanamnese des Betroffenen (sofern dieser diese kognitiv zu leisten in der Lage ist) muss mit fremdanamnestischen Informationen ergänzt werden. Zentrale Methoden hierbei sind das Elterninterview sowie die Fragebogenerhebung bei Lehrern oder anderem pädagogischen Personal (KiTa, Betreuung, Tagesgruppe etc.; bei vielen der Fragebögen stellt sich die Frage nach einer ausreichenden Validität). Auch die teilnehmende oder verdeckte Verhaltensbeobachtung ist eine probate Methode der Informationsgewinnung.
In der Anamnese sollte der Fokus nicht nur auf die Kernsymptomatik gerichtet werden, sondern ebenso auf die störungsspezifische Entwicklungsgeschichte sowie relevante soziopsychische Rahmenbedingungen innerhalb wichtiger sozialer Systeme, insbesondere der Familie (hier etwa Erziehungsstile, Geschwisterkonstellationen, Kommunikationsstil, emotionale Dynamiken, familiäre Krisenbewältigung etc.). Sofern möglich, sollten Eigenauskünfte des Betroffenen erhoben werden. Je älter das betroffene Kind ist, desto eher kann es durch Eigenauskünfte einbezogen werden.
Auf diese Weise erschließt sich ein möglichst umfassendes Bild des Betroffenen und des Krankheitsbildes; es erlaubt insbesondere eine Beurteilung der Ressourcen, Bewältigungsstrategien, Risikofaktoren sowie der Integrationsfähigkeit. Auch werden eventuell vorliegende komorbide Begleitstörungen wie etwa Angststörungen, Somatisierungsstörungen oder Substanzmissbrauch erfasst.
An die Exploration des näheren und weiteren sozialen Umfelds schließt sich eine medizinische Diagnostik (neurologische Tests, EEG, Hör- und Sehfähigkeit, Ausschluss Hypothyreose, Drogenscreening) an, ebenso eine psychologische Diagnostik mit standardisierten Tests zur Aufmerksamkeitsdiagnostik.
Differenzialdiagnose
Eine wesentliche Schwierigkeit der Diagnosestellung liegt in der Abgrenzung der HKS von der Hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens (F90.1), die im Falle der Einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0; ADHS) definitionsgemäß ausgeschlossen werden muss. Auch ist abzuklären, ob es sich um eine eindeutig psychopathologische Merkmalsausprägung handelt, die sich von einer besonders normabweichenden situativen Episode im Rahmen der kindlichen / jugendlichen Persönlichkeitsentwicklung klar unterscheidet.
Weiterhin müssen mögliche organische Ursachen wie Hirntumoren, degenerative Erkrankungen, Hypothyreose, hypoglykämische Attacken oder hirnorganische / neurologische Schäden ausgeschlossen werden, ebenso epileptiforme Sensationen.
Auf der psychopathologischen Seite gilt es, insbesondere schizophreniforme Erkrankungen, affektive Störungen (agitierte Depression), Dysthymie, eine emotional-instabile Persönlichkeitsstörung (Borderline) oder eine generalisierte Angststörungen abzugrenzen.
Von weiterem Interesse ist der Zusammenhang des Auftretens einer HKS mit einer Intelligenzminderung: So nimmt die Häufigkeit der ADHS-Symptomatik mit abnehmendem IQ zu, auch zeigt sich bei intelligenzgeminderten Kindern eine zehnfach höhere Prävalenz eines hyperaktiven Verhaltens.
Wie entsteht eine Hyperkinetische Störung?
Aus der Neurochemie stammt die Dopaminmangelhypothese, die stark vereinfacht eine hypodopaminerge und auch hyponoradrenerge Ausgangsbasis annimmt. Die Konzentration der Neurotransmitter im Striatum scheint bei hyperkinetischen Kindern ungewöhnlich gering zu sein, worauf der erfolgreiche Wirkmechanismus der Psychostimulanzie Methylphenidat (MPH) hinweist: Dieses reduziert reversibel die Menge der verfügbaren Dopamintransporter, was die Dopaminkonzentration im synaptischen Spalt erhöht. Auch das bei ADHS wirksame Amphetamin wirkt als Sypathikomimetikum über die Erhöhung der Dopamin- und Noradrenalin. Ähnlich wirkt sich der noradrenerge Wiederaufnahmehemmer Atomoxetin aus, der gleiches für den Neurotransmitter Noradrenalin bewirkt.
Aus neuropsychologischer Sicht könnte eine Störung der Exekutivfunktionen vorliegen, also jener Prozesse der Handlungskontrolle, die einer Handlung unmittelbar vorausgehen und diese begleiten. Im Zentrum steht hier die Inhibition (Hemmung) von Handlungen, deren Bedeutung sich durch die Tatsache erschließt, dass dem Individuum in einer konkreten eine Vielzahl an möglichen Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung steht, von denen einige angemessen, andere nicht angemessen oder gar dysfunktional wären. Diese Funktion lässt sich weiter in die Verhaltensinhibition (Kontrolle über eigenes Verhalten) und die selektive Aufmerksamkeit (Fokussierung eines gewählten Stimulus bei Unterdrückung der Aufmerksamkeit für andere Stimuli differenzieren. Weitere exekutive Funktionen steuern die Aufmerksamkeit und die Selbstkontrolle, sie dienen der Koordination von Handlungen vor dem Hintergrund einer strategischen Handlungsplanung zu Erreichung selbstgesetzter Ziele. Auch das Arbeitsgedächtnis ist als weitere Exekutivfunktion unabdingbar für das kurzzeitige Speichern und Verarbeiten von Informationen, die für komplexe kognitive Anforderungen notwendig sind.
Durch die Störung der exekutiven Funktionen kommt es bei ADHS zu einem Hemmungsdefizit, was neurochemisch mit dem mesokortikalen Ast des Dopaminsystem assoziiert ist.
Therapie
Therapie der Wahl ist ein multimodaler Therapieansatz, der auch das engere familiäre System sowie weitere relevante Interaktionspartner einbezieht. Durch Psychoedukation erfolgt eine erste Beratung und Aufklärung des Kindes / Jugendlichen und seiner Eltern, wodurch ein besseres Verständnis der Störung geschaffen und dem Patienten sowie seinem Umfeld der Umgang damit erleichtert werden soll. Es folgen Interventionen in der Familie wie Elterntraining oder Familientherapie. Verfahren und Interventionen können sich auch Schule, KiTa oder Jugendhilfeangebote richten.
In der Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) können Ausdauer, Konzentrationsvermögen und Impulskontrolle erhöht werden, ebenso unterstützen altersgemäße Verstärkersysteme im engeren Problemumfeld (Schule, Familie) nicht nur eine Verhaltensmodifikation, sondern können beim Betroffen zusätzlich eine innere Auseinandersetzung mit der Störung bewirken. Fertigkeiten der Selbstinstruktion und des Selbstmanagements stabilisieren Veränderungen.
Pharmakotherapie
Mittel der Wahl ist bei HKS Methylphenidat (z.B. Ritalin, Medikinet), ein indirektes Sympathomimetikum aus der Gruppe der Phenethylamine. Es blockiert die Wiederaufnahme von Dopamin und Noradrenalin in das präsynaptische Neuron durch die Reduktion der Anzahl von Dopamintransporter. Insgesamt wird durch MPH ein positiver Effekt auf inhibierende intrakortikale Prozesse ausgeübt, auch kommt es zu einer Verbesserung von Konzentration und sozialen Fähigkeiten. Impulsivität, Ablenkbarkeit und Frustrationstoleranz werden verbessert. Es wird nicht empfohlen, die Medikation mit MPF während schulfreier Zeiten zu unterbrechen.
Mit einer Halbwertzeit von 2 – 3 Stunden wird MPH sehr schnell verstoffwechselt, was seine Wirkdauer einschränkt (ca. 4 h), um mangelnder Compliance entgegenzuwirken, sind Wirkstoffe mit Retardwirkung erhältlich (Equasym, Concerta, Medikinet retard). Dosiert wird mit 1g / Kg Körpergewicht bei max. 60 mg täglich. Zu den wichtigsten Nebenwirkungen zählen Appetitverlust, Agitiertheit, Kopfschmerzen, Ãœbelkeit, Schlafstörungen und Tics.
MPH ist kontraindiziert bei Schizophrenien, Depressionen, Epilepsie und Ticstörungen.
Atomoxetin ist ein nordadrenerger Wiederaufnahmehemmer, unterliegt im Gegensatz zu Methylphenidat nicht dem Betäubungsmittelgesetz und hat ein geringeres Missbrauchspotenzial. Es ist gut einsetzbar bei ADHS-Patienten mit begleitenden Angst- und Ticstörungen. Zu den Nebenwirkungen zählen ebenfalls eine Appetitminderung, Magenschmerzen, Ãœbelkeit, Müdigkeit, aber auch Blutdruckanstieg und Pulsfrequenzzunahme. Weiterhin wird von einem erhöhten Risiko suizidaler Gedanken berichtet. Die Dosis von Atomoxetin sollte langsam auf das notwendige Maß gesteigert werden, um Nebenwirkungen zu reduzieren; die optimale Wirksamkeit wird nach 4 – 6 Wochen erreicht.